Von der Vision einer Weltverbindung über die Beringstraße und dem britischen Widerstand
Die Landkarte der Welt ist voller Linien, Grenzen und Trennungen. Doch manchmal tauchen Visionen auf, die das Gegenteil bedeuten: Brücken, Tunnel, Verbindungen. Eine dieser Ideen ist bis heute beinahe mythisch – die Beringstraßen-Verbindung zwischen Russland und den USA. Gerade einmal 85 Kilometer trennen an der engsten Stelle die beiden Kontinente Eurasien und Nordamerika. Zwei Inseln, die Diomedes, liegen dazwischen – die eine russisch, die andere amerikanisch. Was könnte näher liegen, als diese Nahtstelle zum Symbol einer geeinten Welt zu machen?
Die Idee ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert träumten Zaren-Ingenieure von einer durchgehenden Eisenbahnlinie von St. Petersburg nach New York. Mit dem Ausbau der Transsibirischen Eisenbahn lag der Gedanke in der Luft: Wenn man schon 9.000 Kilometer quer durch Sibirien Schienen verlegt, warum dann nicht auch die letzten paar Dutzend Kilometer über das Eis?
Technik: Das Machbare war greifbar
Für die Ingenieure der Jahrhundertwende schien nichts unmöglich. Der Gotthardtunnel in den Alpen (1882) oder später der Panamakanal (1914) bewiesen, dass selbst Naturgewalten dem menschlichen Willen nach Verbindung weichen können. Die Beringstraße schien mit ihren 85 Kilometern zwar gigantisch, aber nicht jenseits des Machbaren. Später, im 20. Jahrhundert, wurden mehrfach Konzepte entworfen: Tunnel mit Zwischeninseln, Brückenbögen über die Diomedes, ja sogar Atomsprengungen, um künstliche Bauflächen im Eis zu schaffen.
Im Vergleich zu heutigen Großprojekten wie der Hongkong–Zhuhai–Macau-Brücke (55 km) oder dem Seikan-Tunnel in Japan (54 km) wirkt die Beringstraße nicht mehr unüberwindbar. Heute wäre das Projekt technisch keine Utopie mehr, sondern ein Budgetposten.
Zweiter Weltkrieg: Die gelebte Verbindung
Im Krieg gab es die Beringstraßen-Annäherung sogar schon – nicht auf Schienen, sondern in der Luft. Über den sogenannten ALSIB-Korridor (Alaska–Sibirien) lief ab 1942 die Auslieferung von rund 8.000 US-Kampfflugzeugen an die Sowjetunion. Amerikanische Piloten brachten die Maschinen nach Alaska, sowjetische übernahmen und flogen sie über Sibirien an die Front. Eine stille, aber gewaltige Logistikleistung. Es war der Beweis, dass Alaska und Russland keine unüberbrückbare Distanz trennte – sondern eine Brücke, die man nur zu nutzen brauchte.
In diesem Moment war die Idee einer dauerhaften Infrastrukturverbindung so real wie nie zuvor. Roosevelt und Stalin hätten sich darauf einigen können, die Nachkriegsordnung buchstäblich auf neue Schienen zu stellen.
Churchill: Der eiserne Blockierer
Doch da war noch jemand: Winston Churchill. Für ihn war jede Verbindung, die nicht über Seewege lief, ein Angriff auf das britische Imperium. England kontrollierte die Nadelöhre des globalen Handels: den Suezkanal, Gibraltar, Kapstadt. Jedes Schiff, das von Asien nach Europa wollte, lief durch britische Finger. Ein Landkorridor Russland–USA hätte dieses Monopol zerstört.
Die Vision, dass Waren von Shanghai über Sibirien und die Beringstraße nach New York rollen könnten, ohne britische Zwischenstation, ohne Transitgebühren, war für Churchill undenkbar. Großbritannien, angeschlagen vom Krieg, klammerte sich an die Rolle als Weltmacht – und blockierte jede Entwicklung, die seine maritime Dominanz entwertet hätte.
1946 sprach Churchill in Fulton seine berühmte Rede vom „Eisernen Vorhang“. Sie gilt bis heute als ideologische Kampfansage an die Sowjetunion. In Wahrheit war sie auch eine ökonomische Kampfansage gegen jede Infrastruktur, die das Empire überflüssig gemacht hätte. Mit diesem Vorhang wurde nicht nur der Kalte Krieg eingeleitet – sondern auch die letzte Chance auf eine Welt, in der Handel Landwege statt Flotten braucht, zunichtegemacht.
Verpasste Chancen im Kalten Krieg
In den 1950ern und 1960ern tauchten Pläne wieder auf. Amerikanische Ingenieure rechneten Tunnelvarianten durch, sowjetische Visionäre malten Brücken auf Karten. Es gab sogar Konzepte, mithilfe von Atomexplosionen künstliche Inseln im Eis zu schaffen, auf denen Brückenpfeiler ruhen könnten. Doch jedes Mal setzte sich das Misstrauen durch. Statt Schienen legte man Raketen. Statt Transitgebühren zu sparen, investierte man Billionen in Rüstung.
Die Beringstraße wurde Symbol des Kalten Krieges: nicht als Brücke, sondern als Trennung. Die Diomede-Inseln trennten nicht nur zwei Länder, sondern zwei Systeme – so nah beieinander, dass man an klaren Tagen von der einen auf die andere schauen konnte, und doch Welten entfernt.
Heute: Möglich wie nie, blockiert wie immer?
Heute ist die technische Machbarkeit banal. Ein Tunnel von 100 km Länge? Machbar. Brücken auf künstlichen Inseln? Alltag im Bauwesen. Kosten: geschätzt 50–80 Milliarden Dollar – weniger als die jährlichen Militärausgaben einer einzigen Großmacht.
Doch die Politik hinkt hinterher. Statt den Nahtpunkt der Kontinente zur „Friedensbrücke“ zu machen, hält man an geopolitischen Feindbildern fest. Und wieder sind es dieselben Interessen: Wer kontrolliert die Handelswege? Wer verdient an Transit, Schifffahrt, Energieflüssen?
Churchill hat gesiegt – vorerst
Die Bilanz ist bitter: Churchill setzte 1946 die Trennlinie, und sie wirkt bis heute. Großbritannien selbst mag seine Weltmachtstellung verloren haben, doch die von ihm installierte Blockkonfrontation verhinderte eine Infrastruktur, die die Welt enger hätte zusammenrücken lassen.
Die Brücke über die Beringstraße wurde nie gebaut – nicht, weil sie unmöglich wäre, sondern weil sie zu möglich war. Weil sie ein Machtgefüge gefährdet hätte, das auf Abhängigkeiten beruhte.
Doch im multipolaren 21. Jahrhundert taucht die Idee wieder auf. Nicht mehr als Utopie, sondern als Frage: Wann wagen wir den Schritt, den Churchill verhindert hat?